IMZ-Newsletter #58 Dezember 2023
- Kulturerbe in der Kritik - Zum Jahreswechsel 2023/2024
„Durch die Wüste zieht Karawan“ – Vom wahrlich wüsten Treiben zur Fasnacht in Thaur (von Gerhard Hetfleisch, ARAtirol - Beirat) - Ohne Angst verschieden sein
Das antisemitismus- und rassismuskritische Projekt #OhneAngstVerschiedenSein arbeitet mit Jugendlichen und Multiplikator*innen zur aktuellen Eskalation und zur Geschichte des Nahostkonflikts. (von Arnon Hampe, Projektleiter am Jüdischen Museum in Hohenemms) - Gegen die drohende Spaltung unserer Gesellschaft können wir nur gemeinsam einstehen
Eine gemeinsame Erklärung zum Krieg in Israel und Gaza (vom 24.10.2023) (von Prof. Dr. Zekirija Sejdini - Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik, Universität Innsbruck,
Dr. Hanno Loewy - Jüdisches Museum Hohenems, Arnon Hampe, Dipl.-Pol.)
- ARAtirol: Rückblick und Ausblick
- Flucht ist nicht flüchtig: Vorbereitungen zur Wanderausstellung
- tki 2023 Projekt: DOMINOEFFEKT: Kippen geklappt?
- EinBlick ins DAM: Ein Sack voller Münzen
- WEIHNACHTEN ist für pitanga immer dann …
Zum Nachlesen...
- Leseempfehlung aus unserer Bibliothek: Hasnain Kazim: AUF SIE MIT GEBRÜLL!...und mit guten Argumenten.
- Brauchtum in Tirol 1938 - 1955. Diplomarbeit von Nico Tilg. Innsbruck 2019
und wie immer...
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Kulturerbe in der Kritik - Zum Jahreswechsel 2023/2024
„Durch die Wüste zieht Karawan“ – Vom wahrlich wüsten Treiben zur Fasnacht in Thaur (von Gerhard Hetfleisch, ARAtirol - Beirat)
Beim Mullern in Thaur hat im Februar 2023 die Gruppe um das Kamel einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Da trieb das Kamel mit Pascha, garniert mit einer „queeren“ Kleopatra – umschwärmt von muslimischen Sklaventreibern – schwarz bemalte, halbnackte, an Ketten zerrende Sklaven in erniedrigenden Posen durch das Dorf. ARA-Tirol hat den Vorfall aufgegriffen und für mediales Echo gesorgt. Zum Jahreswechsel stellt sich nun die bange Frage, ob es in der Fasnachtzeit in Thaur wieder ein Potpourri an Abgründen rund ums Kamel geben wird.
Gesundem und äußerst amüsantem Volkswitz entsprungen!
Der Brauch des Mullens in Thaur findet jährlich statt, erstreckt sich über die Fasnachtszeit bis zum Unsinnigen Donnerstag (8.2.24). Alle vier Jahre findet das Thaurer Mullerlaufen statt, zuletzt 2023. Die jährlichen Mullereien und das Mullerschaug’n spielen sich in Bauernhäusern, Gasthöfen, Festlichkeiten von Vereinen, in Bällsälen und Festzelten ab, auch rund um Thaur. Dazu kommt am Unsinnigen das Begräbnis mit einem „kleineren Umzug durchs Dorf“, neuerdings erfolgreich als „Nachtumzug“ konzipiert, so die Website der Thaurer Muller.
Zentral im Fasnachgeschehen sind die Muller mit ihren Figuren und Maskentypen, wie etwa Klötzler, Zottler, Zaggeler, Spiegeltuxer. Die Mullerfiguren spannen den Bogen des Übergangs vom Weihnachtsfestkreis zum Neujahr und Fasching, vom Winter zum Frühling, ursprünglich in religiösen Allegorien. Daneben finden sich beim Mullerlaufen ältere, ebenfalls „traditionell“ empfundene Karikaturen des Alltagslebens und Spottfiguren, wie Der Alte, Die Låll, Bär, Die Hexen und Die Affen.
Laut Thaurer Muller ist der „Fasnachtsbrauch noch ursprünglich“ und er wird „nach strengen Regeln begangen (Website). Einer “Mischung aus Tradition und gesundem und äußerst amüsantem Volkswitz“ als Quell seien „immer mehr und immer neue Ideen“ entsprungen. Neben die „traditionellen“ Spiel- und Spottszenen treten neue, aus dem zeitgenössischen Kontext gewonnene. Es wird dabei „auch auf typische Traditionen anderer Länder zurückgegriffen“. Beispiele dafür sind laut Website „der berühmte spanische Stierkampf, die ägyptischen Karawanen mit Kamelen, Sklaven und der Königin Kleopatra, die selbstverständlich auch von einem jungen, männlichen Thaurer verkörpert“ wird. Aus dem Jahr 2007 gibt es eine kurze Beschreibung des Kamels von Thomas Nußbaumer, Musikwissenschaftler, in seinem Buch Fasnacht in Nordtirol und Südtirol aus dem Jahr 2010 (S. 223). „Am Nachmittag erfolgt ein Dorfumzug mit […] Kamel, Sklaven, Sklaventreibern, Wasser- und Ölträgern, Kistenträgern und einem Pascha, dem alle huldigen müssen. Die Sklaven singen zur Huldigung des Paschas das Lied ‚Durch die Wüste zieht Karawan‘. Man bringt immer wieder auf der Straße kreisförmig verschüttetes Öl zum Brennen, sodass oft minutenlang dichter Qualm die wie wild tobenden Fasnachtler einhüllt. […] Das spektakuläre Begräbnis in Begleitung der Kamel-Gruppe führt durch mehrere Lokale.“ Das dazu auf derselben Seite hinzugefügte illustrierende Foto aus dem Jahr 2007, untertitelt mit „Sklaven im Dreck, Feuer und Rauch“, spricht Bände, und belegt, was so alles als „typische Traditionen anderer Länder“ angesehen wird. Die von den Mullern behaupteten „ursprünglichen“ und „strengen Regeln“ des Mullens bleiben ebenso wie das angestrebte „saubere Erscheinungsbild“ auf der Strecke.
Immaterielles Kulturerbe?
Das Mullern oder Matschgern wurde von der Unesco-Kommission Österreich 2011 in die nationale Liste des immateriellen Kulturerbes eingetragen. Ein Gutachten von Nußbaumer aus dem Jahr 2010 war dafür eine wichtige Grundlage. In der Form folgte das Gutachten der Vorlage und Kriterienliste der Unesco-Kommission Österreich. Nußbaumer führt zum Mullen und Matschgern in den MARTHA-Dörfern, zu den formalen Kriterien u.a. aus, dass das Mullen, „sofern dies aus den Archivquellen und aus fast zehnjähriger eigener Beobachtung ersichtlich ist, ohne Zweifel im Einklang mit den Menschenrechtsübereinkünften“ steht. Es werden die „kulturelle Vielfalt“ und die „Rechte von Gemeinschaften, Gruppen und Einzelpersonen geachtet.“ Das Gutachten wurde im Jahr der Veröffentlichung des Buchs verfasst, das Kamel mit seinen Abgründen war dem Verfasser sehr vertraut. Davon erfährt die Unesco-Kommission allerdings nichts.
Ebenso fehlt der Hinweis auf die Ereignisse der letzten Fasnacht 1939 vor dem Zweiten Weltkrieg in Thaur. In seiner Publikation Fasnacht in Nordtirol und Südtirol wird auf Seite 222 ohne Quellenangabe „als Veranstalter die nationalsozialistische Freizeitorganisation NS Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude‘“ (KdF) genannt. Hingegen findet man auf der Website der Muller in Thaur mit Quelle, aber nicht näher ausgeführt, dass das Thaurer Mullerlaufen 1939 „mit tatkräftiger Unterstützung des NS-Regimes“ (hervorg. GH) laut Innsbrucker Nachrichten stattgefunden hat. Sowohl Nußbaumer als auch die Website verschweigen ein wesentliches Detail: Beim Mullerlauf am Sonntag 5. 2. zogen nämlich als jüdische Händler Maskierte durch das Dorf, wie Nico Tilg in seiner Diplomarbeit „Brauchtum in Tirol 1938 – 1955“ notiert (2019, Zeitgeschichte Innsbruck, betreut von Horst Schreiber). Bei Tilg findet sich das Faksimile eines Fotos in den Innsbrucker Nachrichten vom 6.2.39 mit einem jüdischen Hausierer mit einem Gendarmen. (84) Laut Zeitung haben 100 Maskierte an der Fasnacht teilgenommen bei 2000 Zuschauern, für die „Bürgermeister Speckbacher und Parteigenosse Jörg Bayr“ verantwortlich zeichneten (ebd.). Dies geschah drei Monate nach dem Novemberpogrom in Innsbruck, bei dem in der Nacht vom 9. auf den 10. November zahllosen jüdischen BewohnerInnen bedroht, misshandelt und erniedrigt wurden, davon drei ermordet und zahllose schwer verletzt, wovon einer an den Verletzungsfolgen verstarb. Die hohe Zahl der Beteiligten und Zuseher spricht für die vorhandene Akzeptanz im Dorf. Es ist daher mehr als verwunderlich, dass Nußbaumer im Gutachten keinen Ton über diesen eng mit den Mullern verbundenen antisemitischen Akt verliert. Er wird in Fasnacht in Nordtirol und Südtirol anonym bleibenden Nazis in die Schuhe geschoben, die als Veranstalter der Fasnacht Regie führen. Nichts stört das positiv gezeichnete Bild. Das Foto in seiner Publikation aus 2007 ist auch für einen Laien mit einem Blick als rassistisches Sammelsurium leicht erfassbar, das von Blackfacing, Palästinensertuch, bis zur muslimischen Kopfbedeckung reicht, noch dazu herabwürdigend untertitelt mit „Sklaven im Dreck, Feuer und Rauch“ (223).
Die "Gruppe der Sklaven" beim Faschingsball in Thaur 2012. Auch 2023 trat die Gruppe in unveränderter Darstellung beim Fasnachtstreiben auf. Ein Videobeitrag auf Youtube belegt eindrücklich und erschreckend die Beibehaltung der Traditionen.
Reaktionen auf das böse Spiel
Da die Szenen in Thaur 2023 manchen Zuschauern „aus der Zeit gefallen“ vorkamen und diese die Anlaufstelle für Antirassismusarbeit Tirol kontaktierten, wurde von ARA-Tirol im März 2023 die Kritik in die Öffentlichkeit getragen. Der ORF-Tirol berichtete, und ARA-Tirol konnte am internationalen Tag gegen Rassismus am 21.3.23 in der ORF-Sendung „Hallo Tirol“ von Michael Irsberger die Sinnhaftigkeit und die rassistischen Implikationen der Spielszene problematisieren. Das diskriminierende Spiel in Thaur fand breiten Raum im Blog von Armin Wolf.
Am 5. April 2023 erschien in der Wiener Zeitung ein Gastkommentar von Martin Fritz, Generalsekretär der Österreichischen Unesco-Kommission, mit der bezeichnenden, auch auf Thaur gemünzten Überschrift: Die Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe verpflichtet nicht zur Beibehaltung diskriminierender Darstellungen. Im Gegenteil. Fritz schreibt, dass oft argumentiert wird, dass die „Anerkennung einer Praxis als Immaterielles Kulturerbe eine Verpflichtung beinhalten würde, nichts an den tradierten Darstellungen oder Inhalten ändern zu dürfen. Einmal abgesehen davon, dass wohl weder die Verbrennung einer ‚Klimakleberin‘ [Funkenhexen in Vorarlberg] noch die Darstellung einer ‚Sklavengruppe‘ zum Traditionsbestand der beiden Faschingsveranstaltungen zählen dürfte, ist es auch nicht richtig, dass aus dem Unesco-Übereinkommen eine Musealisierungspflicht für tradierte Praktiken folgt.“ Es gäbe bereits zahlreiche „Beispiele für Veränderungen von überlieferten Praktiken“. Die Funkenzunft Bludenz „verzichtet bereits seit mehr als zwanzig Jahren auf ‚Hexen‘.“ In Belgien wurde „die Darstellungen des ‚Wilden‘ im Rahmen des Stadtfestes ‚Ducasse d’Ath‘“ von den Veranstaltern aus der „Repräsentativen Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ zurückgezogen.
Fazit
Mit der ursprünglichen Tradition der Thaurer Muller sind Spielszenen und -gruppen verbunden, die laut Website dem „gesunden und äußerst amüsantem Volkswitz“ (sic!) geschuldet sind: „Typische Traditionen anderer Länder“ treten als zeitgenössisch geprägte Spottfiguren auf, wie dies 1939 exemplarisch an den Juden exerziert wurde und im Kamel – „lustig“ verbrämt – als Hatz oder Hetz heute böse Urstände feiert. Verstörend wirkt der platte Orientalismus im Verhalten wie in den Accessoires der Maskierten, der als rassistisch und antimuslimisch inspiriert interpretierbar ist, wie sich dies im Blackfacing bzw. im Mimen von Menschen schwarzer Hautfarbe offenbart, garniert mit entwürdigenden Posen und Unterwerfungsgesten, und in den von Peitschenhieben gezeichneten Körpern zeigt. Die Accessoires reichen von der muslimischen Takke, dem Fes zur Kufiya, einer traditionellen arabische Kopfbedeckung, die zum Markenzeichen von Jassir Arafat wurde und als Palituch (Palästinensertuch) zum apolitischen Modeaccessoire verkommen ist, heute manche an die Gräueltaten der Hamas in Israel gemahnt. Kleopatra wird auf der Website stolz als quasi „queer“ angepriesen, da sie ja von einem Mann dargestellt wird, woraus eher eine Volte gegen die LGBT–Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Bewegung zu lesen ist. Dazu passen das zügellose Saufen und das „klimaschonende“ Abfackeln von Öl, wie auf YouTube Videos nachzusehen ist.
Soweit, so „lustig“, und so richtig „passend“ zu den aktuellen Ereignissen in Israel, Black Lives Matter, dem grassierenden Antisemitismus, dies drei Monate nach dem Gedenken zu 85 Jahre Reichspogromnacht am 9. November 23 in Tirol. Das „Kamel“ kann antisemitisch, antimuslimisch, rassistisch, kolonialistisch und generell diskriminierend gelesen werden. Sollte das Kamel in seiner „traditionellen“ Form 2024 auftreten, könnte Thaur unter den derzeitigen zugespitzten politischen gesellschaftlichen wie internationalen Verhältnissen einen Mehrfach-Jackpot landen, der auch ein medialer sein könnte. Will man das wirklich?
Auf der Website der Muller wird hellsichtig die „Gefahr“ erkannt und beklagt, dass das Mullen im „ganzen Land […] zu einer ‚Trendsportart‘ degradiert“ und durch „Showelemente“ aufgebläht wurde, um „noch besser anzukommen.“ Richtig wird betont, dass das „mit Tradition nicht mehr viel zu tun hat.“ Die Frage stellt sich, ob Thaur nicht im selben Wasser fischt, das man der Konkurrenz vorhält. Sind es nicht einzelne populistischen Spottfiguren, wie die des Kamels, die eine Vorbildfunktion haben? Es wäre an der Zeit jene mächtigen Einflüsterer „zu teeren und zu federn“, die mit den Ausgegrenzten in Dorf und Land ihr böses Spiel treiben und mit den wirklichen Anliegen und Nöten der Gemeinden Schindluder treiben. Es ist allerdings allemal leichter und auch dorfgefälliger seine "Courage" an sozialen und kulturellen Minderheiten und Randgruppen zu kühlen.
#OhneAngstVerschiedenSein
Gastbeitrag von Arnon Hampe, Projektleiter am Jüdischen Museum in Hohenemms
Das antisemitismus- und rassismuskritische Projekt #OhneAngstVerschiedenSein arbeitet mit Jugendlichen und erwachsenen Multiplikator*innen aus Schule, Jugendarbeit und Zivilgesellschaft zur aktuellen Eskalation und zur Geschichte des Nahostkonflikts.
Mit etwas Abstand betrachtet
Mehr als acht Wochen ist es inzwischen her, dass die Bilder des brutalen Angriffs der Hamas auf israelische Zivilist*innen durch die Welt gingen. Die Terroristen filmten ihre Tat – ein Massaker an 1200 Männern, Frauen und Kindern – mit Bodycams und streamten sie zum Teil live im Internet. Die ganze Welt sollte sehen, wozu sie in der Lage sind, ihre Entschlossenheit bewundern, ihren „Widerstand“ feiern. Dieses von den Hamas-Strategen entworfene Szenario wirkt ganz nach ihren Vorstellungen: Israel reagiert, nach Überwindung des ersten Schocks, mit erwartbarer militärischer Härte. Die fliehenden und sterbenden palästinensischen Zivilist*innen werden als Opfer eines angeblichen Krieges gegen Muslime medial instrumentalisiert. Die Welt schaut auf Gaza und auf den analogen wie virtuellen Straßen der Welt formiert sich eine neue pro-palästinensische und anti-israelische Bewegung. In den westlichen Gesellschaften vergrößert sich die Kluft zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Viele Menschen sehen sich genötigt, sich „für eine Seite“ entscheiden zu müssen.
Kein sicherer Ort mehr
Nicht nur den Israelis, allen Jüdinnen und Juden sollte durch die Brutalität des Terrorangriffs eine einfache Botschaft übermittelt werden: „Für euch gibt es keinen sicheren Ort auf der Welt!“ Nicht in Israel und auch nicht anderswo. Für Jüdinnen und Juden ist die Welt nicht mehr dieselbe, wie vor dem 7. Oktober. Zwar haben sich die politischen Vertretungen Deutschlands und Österreichs nach den Angriffen klar mit Israel solidarisiert. Doch gerade in Teilen der Migrationsgesellschaft wird diese demonstrative Solidarität als Affront aufgefasst. Womit ist es zu erklären, dass es manchen Menschen offensichtlich schwer fällt, Empathie für israelische Terror-Opfer aufzubringen, den Angriff zu verurteilen, seinen antisemitischen und misogynen Charakter zurückzuweisen? Wie kann es sein, dass Angehörige von Minderheiten, die selbst Rassismus erfahren und marginalisiert werden, den Angriff auf Jüdinnen und Juden feiern?
„Krieg gegen Muslime“
Ein Ziel islamistischen Terrors ist es, Gesellschaften zu polarisieren und zu destabilisieren. Das ist der Hamas mit dem Terror vom 7. Oktober gelungen. Auch unsere Gesellschaft spaltet sich inzwischen anhand der Frage: „Für welche Seite bist du?“ Als handele es sich um ein Fußballspiel und nicht um einen brutalen Angriff mit fatalen und sehr konkreten existenziellen Folgen für hunderttausende Menschen. Ein Hauptnarrativ, mit dem aktuell die Wahrnehmung vor allem junger Menschen manipuliert wird, ist die Behauptung, es handele sich bei den Angriffen der israelischen Armee um einen „Krieg gegen Muslime“. Damit wird das Gewissen junger Muslim*innen angesprochen und die Gewalt der Hamas erscheint als legitimer Widerstand gegen Unterdrückung. Dieses Narrativ knüpft an reale Erfahrungen muslimischer Jugendlicher mit antimuslimischem Rassismus an, greift diese auf, um ihnen als Ausweg eine „authentische muslimische Identität“ in Abgrenzung von westlichen Werten aufzuzeigen. Dieses Deutungsschema macht blind für jüdische Gewalterfahrungen, für die Traumata der israelischen Gesellschaft und ihre existenzielle Angst vor Vernichtung.
Den Schmerz der Anderen anerkennen
Auf der anderen Seite scheinen Teile der deutschen und österreichischen Mehrheitsgesellschaft und vor allem der politisch Verantwortlichen nicht in der Lage zu sein, palästinensisches Leid zu sehen. Es fehlt an Empathie und Anerkennung des Bedürfnisses nach Ausdruck von Trauer, Schmerz und Solidarität. Die Verstrickung der Mehrheitsgesellschaft in das Schicksal des Staates Israel und seiner mehrheitlich jüdischen Bevölkerung ist historisch so groß, dass sie mitunter blind macht für das Leiden der Palästinenser*innen. Manche tun sich schwer, die Angriffe der Hamas zu verurteilen, mit Israel solidarisch zu sein – und sich zugleich empathisch gegenüber den Palästinenser*innen im Gazastreifen zu zeigen. Als wäre eins nur auf Kosten des anderen möglich, als könne es keine Gleichzeitigkeit geben.
Manche scheint dabei die berechtigte Sorge umzutreiben, dass dabei der Auslöser des Krieges, der brutale Überfall der Hamas und ihr Ziel der Auslöschung Israels, in den Hintergrund gerät. Diese Sorge ist nicht unberechtigt. Denn mit Begriffen aus dem Arsenal des Postkolonialismus wird nicht nur der Angriff vom 7. Oktober als legitimer Widerstand verharmlost, sondern gleich der Staat Israel grundsätzlich infrage gestellt. Besonders alarmierend ist dabei, dass sich Vertreter*innen ganz unterschiedlicher politischer Strömungen, die sonst eher weniger miteinander verbindet, scheinbar mühelos auf dieselben Begriffe einigen können, mit denen aus ihrer Sicht der Israel-Palästina-Konflikt und auch die jüngste Eskalation hinreichend erklären lassen: Siedlerkolonialismus, Apartheid, Genozid. Auf dieses Programm der Delegitimation und Dämonisierung Israels schwören momentan radikale Islamisten, Teile der Linken und sogar manche Rechte ihre Anhängerschaft ein. Die Kritik an der Einseitigkeit und Ahistorizität dieser Konzepte sollte aber wiederum nicht dazu verleiten, die legitimen Interessen der Palästinenser*innen im Konflikt um Israel/Palästina zu negieren.
Um jede*n Jugendliche*n kämpfen
Jugendliche verbringen im Schnitt etwa vier Stunden am Tag in ihren Social Media Apps. Momentan sehen viele von ihnen täglich Bilder und Videos von leidenden Menschen im Gazastreifen, insbesondere von Kindern. Dass die Menschen dort leiden und der Krieg zwischen Hamas und israelischer Armee ihnen Unvorstellbares abverlangt, steht außer Frage. Auch, dass die israelische Armee sich womöglich nicht immer an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hält, kann und darf kritisiert werden. Dass Israel ein Recht auf Selbstverteidigung gegen die Aggressoren des 7. Oktober und ihre Hintermänner hat, muss nicht bedeuten, den Palästinenser*innen die Hölle zu wünschen. Dass man den Palästinenser*innen ein Leben in Freiheit und Würde wünscht, muss nicht zwangsläufig zur Folge haben, Israel die Existenzberechtigung abzuerkennen.
Im Projekt werden Workshops für Jugendliche, Schulen und Fortbildungen für Multiplikator:innen angeboten. Fotos: #OhneAngstVerschiedenSein
Jugendliche müssen Identitätsangebote bekommen, die besser sind als diejenigen von Islamisten, Antisemiten, staatsautoritären Antisemitismusbekämpfern und Rassisten. Angebote, die Vielfalt wertschätzen, Freiheitsrechte hochhalten und soziale Ungleichheit verringern wollen. Momentan laufen wir Gefahr, eine ganze Generation an die Propaganda radikaler politischer Kräfte zu verlieren. Wir sollten sie nicht aufgeben!
Dipl.-Pol. Arnon Hampe ist seit 2021 im Jüdischen Museum Hohenemms tätig. Er ist Koordinator des Projekts #OhneAngstVerschiedenSein. Reden über Judentum, Erinnerungskultur und Nahost – im Spannungsfeld von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit in der Migrationsgesellschaft.
Auf der Homepage gibte es auch Hinweise und Materalien für die pädagogische Arbeit.
Gegen die drohende Spaltung unserer Gesellschaft können wir nur gemeinsam einstehen
Eine gemeinsame Erklärung zum Krieg in Israel und Gaza (vom 24.10.2023)
Foto: #OhneAngstVerschiedenSein
Noch immer lähmt uns Entsetzen und der Schock angesichts des pogromartigen, antisemitischen und frauenverachtenden Terrors gegen unschuldige israelische Zivilist*innen am 7. Oktober und die dadurch bereits entfesselte Spirale der Gewalt. Die fehlende Aussicht auf eine baldige gewaltlose Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern verursacht bei vielen Menschen auf beiden Seiten des Zauns und ihren Angehörigen und Freunden Gefühle von Ohnmacht, Verzweiflung und Wut. Inmitten dieses Irrsinns möchten wir ein gemeinsames Zeichen für Gewaltlosigkeit, Humanität und Heilung setzen.
Der Konflikt wird bereits auch auf den Straßen der Welt, vor allem aber in den Echokammern der sozialen Medien ausgetragen. Die Kampfhandlungen werden begleitet von einem medialen „Krieg der Bilder“. Dieser Krieg der Bilder ist Teil des Kalküls der terroristischen Hamas. Menschen sollen emotionalisiert und zum Hass auf Andere angestachelt werden. Der Konflikt soll als Auseinandersetzung zwischen Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen wahrgenommen werden. Das unweigerliche Ansteigen von antimuslimischem Rassismus – so ist es immer, wenn vorgeblich im Namen des Islam Terroranschläge verübt werden – wird bewusst in Kauf genommen, ja es ist geradezu ein strategisches Ziel der Hamas und ihrer ideologischen Verwandten. Damit dürfen sie keinen Erfolg haben! Wir fordern alle Menschen, die sich emotional vom Konflikt und dem aktuellen Ausbruch der Gewalt betroffen fühlen auf, weiterhin (und jetzt erst recht!) das Gespräch miteinander zu suchen und sich nicht spalten und gegeneinander aufhetzen zu lassen.
Die Zukunft der israelischen Regierung, allen voran die von Premier Netanyahu, wird in Israel offen diskutiert. Viele sehen ihn und seine rechte Regierung in der (Mit-)Verantwortung für diese Entwicklung und diese Eskalation der Gewalt. Die nächsten Wahlen werden über ihr Schicksal entscheiden. Die israelische Gesellschaft befindet sich an einem Scheideweg. Dazu gehört auch die Frage, ob die Antwort auf den Terror internationales Recht respektiert oder den Weg kollektiver Bestrafung geht. Die Palästinenser*innen im Gazastreifen dagegen haben seit Langem keine Möglichkeit, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden und sind auf Solidarität und Versorgung von außen angewiesen. Die Bevölkerung des Gazastreifens hat deshalb jede Solidarität verdient und diese äußern zu können, darf nicht automatisch mit Antisemitismus gleichgesetzt werden. Solidarisch zu sein mit dem berechtigten Wunsch der Palästinenser*innen nach Selbst-bestimmung und einem Leben in Sicherheit und Würde darf aber nicht bedeuten, den Terror der Hamas in irgendeiner Weise zu legitimieren. Es muss jetzt für alle klar sein, dass die totalitäre Hamas nicht Teil dieser Bewegung für gleiche Rechte aller Menschen in der Region sein kann. Israelis und Palästinenser*innen werden auch weiterhin Seite an Seite in der Region leben und es kann nur dann eine Zukunft für beide Seiten geben, wenn nicht länger die Fantasie der Eliminierung des anderen das Handeln bestimmt.
Antisemitismus ist eine reale Bedrohung jüdischen Lebens – und die sich bereits abzeich-nende neue Welle judenfeindlicher Verschwörungsfantasien bereitet uns große Sorgen. Aber weder kann Antisemitismus mit antimuslimischem Rassismus begegnet werden, noch darf der Rassismus in unserer Gesellschaft als Rechtfertigung missbraucht werden, der grassierenden Terrorpropaganda aufzusitzen. Wir wissen, dass auf den Dialog in unserer diversen Gesellschaft neue, schwierige Herausforderungen zukommen. Aber gegen die drohende Spaltung unserer Gesellschaft können wir nur gemeinsam einstehen. Hier wie dort.
Prof. Dr. Zekirija Sejdini
Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik, Universität Innsbruck
Dr. Hanno Loewy
Jüdisches Museum Hohenems
Arnon Hampe, Dipl.-Pol.
#OhneAngstVerschiedenSein
IMZ veröffentlich die gemeinsame Erklärung mit freundlicher Genehmigung der Verfasser.
ARAtirol: Rückblick und Ausblick
Miriam Hill, ARAtirol
Das Jahr neigt sich dem Ende und ARAtirol möchte die Gelegenheit nutzen, die vergangenen zwölf Monate Revue passieren zu lassen. Wie in den Jahren zuvor, bestimmten diverse Aufgaben unser Schaffen: Dazu zählen die Einzelfallberatung, die vielen Aktivitäten im Bildungsbereich, die Öffentlichkeitsarbeit sowie die Vernetzung mit anderen Institutionen und Einrichtungen. Die zahlreichen Tätigkeitsfelder zeigen, dass die rassismuskritische Arbeit eine Querschnittsaufgabe ist, die mitunter mühsam und zäh (weil gegen Widerstände zu arbeiten ist), aber auch sehr bereichernd und inspirierend sein kann. Vor allem im Umgang mit Kindern, Jugendlichen und Interessierten sind hier wertvolle Reflexionsprozesse in Gang gesetzt worden, die für eine zukunftsorientierte und weltoffene Gesellschaft notwendig sind.
Im März waren Schulklassen zu Workshops im Rahmen einer Kundgebung am Vorplatz des Tiroler Landestheaters eingeladen. Foto: ZeMiT
Konkret hat ARAtirol viele Menschen in Tirol beraten, die von rassistischer Diskriminierung betroffen waren. Hierbei reichten die Meldungen von Ungleichbehandlungen im Wohn- und Arbeitsbereich, über rassistische mediale Darstellungen bis hin zu Diskriminierungen im Dienstleistungsbereich. Viele Erfahrungen, die als Alltagsrassismus zu definieren sind, wurden im Beratungskontext besprochen. Dabei ist unsere oberste Maxime, die Ratsuchenden in ihrem Erleben ernst zu nehmen, ihnen einen geschützten Raum anzubieten und sie durch empowernde Maßnahmen zu unterstützen.
Dass Rassismus zu einer Alltagserfahrung für viele Gesellschaftsmitglieder auch in Österreich zählt, zeigt die im Oktober 2023 veröffentlichte und von der FRA (European Union Agency for Fundamental Rights) durchgeführte Studie „Being Black in the EU“. Hierbei gaben 72 Prozent der Befragten in Österreich an, bereits Erfahrungen mit Diskriminierung zu haben und begründeten dies mit ihrer Hautfarbe und dem Migrationshintergrund.
Große Nachfrage gab es auch in Bezug auf die rassismuskritische Bildungsarbeit, die ARAtirol zielgruppenorientiert anbietet. So wurden Workshops, Vorträge und Trainings für Vereine, Schulen oder Weiterbildungsträger erfolgreich umgesetzt. Dadurch erreichten wir einerseits Kinder und Jugendliche als auch Menschen, die in Schlüsselpositionen oder pädagogischen Settings arbeiten und als Mutliplikator:innen ihr neues Wissen weitergeben können.
Für die eigene Arbeit ist es uns immens wichtig, dass ARAtirol in ein Netzwerk eingebunden ist, das den lokalen, regionalen und überregionalen Austausch ermöglicht. Hier können neue Impulse entstehen und gesellschaftliche Diskurse reflektiert werden. Deshalb kooperiert ARAtirol mit universitären Einrichtungen, tauscht sich mit Hochschulen, Vereinen, Kulturschaffenden oder zivilgesellschaftlichen Initiativen aus und ist Teil des Tiroler Integrationsforums (TIF).
In diesem Zusammenhang ist auch die Öffentlichkeitsarbeit zu nennen, die als wesentliche Säule einer rassismuskritischen Arbeit fungiert. Neben Aktionen, wie beispielsweise unsere Kundgebung in Innsbruck mit Workshops am 21. März 2023, anlässlich des „Internationalen Tag gegen Rassismus“, waren wir auch medial präsent. So gab es ein ausführliches Interview mit ARAtirol in der Septemberausgabe von „Tirolerin“, in dem unsere Position und unsere Handlungsfelder abgebildet wurden. Vor allem die Ereignisse rund um den „Thaurer Fasching“ erzeugten großes mediales Interesse an unserer Arbeit. Mit einer klaren Haltung gegenüber menschenverachtenden und rassistischen Darstellungen haben wir uns mehrfach in den öffentlichen Diskurs eingebracht und die Wichtigkeit rassismuskritischer Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit deutlich gemacht.
Wir von ARAtirol sind davon überzeugt, dass soziale Ungleichheitsverhältnisse und Diskriminierung hinderlich für ein gutes Zusammenleben in einer Gesellschaft sind. Deshalb plädieren wir für eine nachhaltige rassismuskritische und diversitätssensible Perspektive und werden uns auch im Jahr 2024 weiter dafür stark machen.
Flucht ist nicht flüchtig
In Vorbereitung der Ausstellung „Flucht ist nicht flüchtig“ gingen wir in den Tiroler Gemeinden Imst und Wattens auf die Suche nach Perspektiven auf Flucht, Vertreibung und Neuanfang und sind fündig geworden. „Flucht ist nicht flüchtig“ lädt zu einem Perspektivenwechsel ein und sieht sich als kleiner Baustein in einem Bemühen um ein neues Miteinander, in dem menschliche Schicksale und menschliches Engagement gleichermaßen ans Licht geholt werden. Abseits aktueller Diskurse, Stereotype oder Zuschreibungen soll es möglich sein, Flucht und Vertreibung als Teil einer gemeinsamen Geschichte und Zukunft zu betrachten und einen Austausch darüber anzuregen.
In Workshops mit Geflüchteten aus der Ukraine, Somalia, Afghanistan, Syrien und dem Irak entstanden Collagen, die einen kleinen Ausschnitt der Lebensgeschichte von Geflüchteten offenbaren, sie erzählen von Sehnsucht und Verlust, von Ängsten, Hoffnungen, Liebe und werfen einen Blick in die Zukunft. Die Collagen sind ein Versuch, neu angekommenen Menschen ein Ausdrucksmittel ihrer persönlichen Geschichte, Wünsche und Hoffnungen anzubieten, das nicht auf Sprache basiert. Die oft bunten Bilder sollen aber nicht über die Leerstellen der Darstellungen hinwegtäuschen: traumatische Erfahrungen von Krieg, Gewalt und Tod können und wollen oft im Rahmen eines Workshops nicht offenbart werden.
"Ich mag Frieden, ich fühle mich jetzt sicher." Collage von Abd.
Die Collagen, Geschichten und Kunstwerke sind verschiedene Ausdrucksformen von Menschen, die in der Öffentlichkeit oft nicht gehört und gesehen werden. In der Ausstellung FLUCHT ist nicht flüchtig wollen wir bewusst diesen Perspektiven Raum gehen und einen empathischen und reflektierten Zugang zum "Thema", zum "Schicksal", zur "Zumutung" Flucht anbieten.
Folgende Termine sind bereits fixiert:
4.3.2024 - 5.5.2024 Museum im Ballhaus (Imst)
22.5.2024 - 23.7.2024 Museum Wattens
tki 2023: DOMINOEFFEKT Kippen geklappt?
Aneinanderreihen, Vernetzen, Verschmelzen und nicht zuletzt Kippen von unterschiedlichsten Dingen und Sichtweisen waren zentrale Elemente im tki open Projekt Dominoeffekt, die allesamt auf wunderbar kreative und lustvolle Art von Graphic Recorderin Anna Kranebitter an diversen Schauplätzen in Innsbruck festgehalten wurden.
"Graphic Recording ist ein wunderbares Werkzeug, um das Essentielle einer Veranstaltung – Information und Erinnernswertes – festzuhalten. Durch das persönliche Erleben macht das Zeichnen besonders Spaß und das Erfahrene bekommt über den Stil der Illustration einen stimmigen Ausdruck. Die vier Veranstaltungen, bei denen ich Graphic-Recordings für das Zemit erstellen durfte, waren jede für sich eine große Bereicherung und ich bin sehr dankbar, an diesen Tagen Teil des großartigen Teams gewesen zu sein." Anna Wacholder – Illustratorin
Kunst wurde schon seit jeher genutzt, um Anliegen in der Gesellschaft zu thematisieren. Mit dem Projekt Dominoeffekt wollten wir jenen Menschen eine Plattform bieten, die Mut zum Kippen haben, und Anstöße liefern möchten, die Prozesse der Veränderung in die Wege leiten. Wir möchten ein herzliches Danke an alle aussprechen, die an unserem Projekt mitgewirkt haben und dieses mit ihrer Teilnahme an den Events unterstützt haben. Wir konnten viele neue Verbindungen knüpfen Austausche in die Wege leiten und neue Kooperationen ins Leben rufen. Der Dominoeffekt wurde somit ausgelöst und wir bleiben dran! Seid gespannt auf das, was euch erwartet!
Ein Blick in die Veranstaltungen von 2023 bekommt ihr hier.
Auch 2024 darf ZeMiT mit einem tki - Projekt einen Ausflug in die Kulturlandschaft machen - SAFE SPACEs SPEAK stellt die Dinge auf den Kopf, wechselt die Perspektiven, tauscht Disziplinen aus und belebt die Kommunikation.
EinBlick ins DAM: Aktueller Beitrag im Tiroler Chronisten
„Ein Sack voller Münzen“: Zur Bedeutung des Telefons im Kontext der Arbeitsmigration der 1960’er bis 1980’er Jahre
Christina Hollomey-Gasser, Dokumentationsarchiv Migration Tirol
Migration ist ein genuin transnationales Phänomen, es schließt und schloss immer ein Hier und Dort, ein Sein an mehreren Orten mit ein. Interaktionen und Verbindungen über Landesgrenzen hinweg spielen für Migrantinnen und Migranten eine bedeutende Rolle. Dazu gehört auch die Kommunikation zwischen den „Migrierenden“ und den „Daheim-Gebliebenen“.
Das Dokumentationsarchiv Migration Tirol – DAM (www.dam.tirol) hat es sich zur Aufgabe gemacht, Migration als Teil der Geschichte Tirols zu sammeln und nach wissenschaftlichen Standards zu archivieren. Für Rechercheanfragen wenden Sie sich bitte an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! .
Während Kommunikation heute zu jederzeit an jedem Ort und in alle Welt möglich ist, stellte sich die Situation für jene Migrant*innen, die ab den 1960er Jahren als Arbeitskräfte nach Österreich gerufen wurden, gänzlich anders dar. Transport- und Kommunikationsmittel waren rar und teuer. Darüber hinaus erschwerten fremdenrechtliche Bestimmungen und ein harter Arbeitsalltag die Mobilität zwischen Herkunfts- und Beschäftigungsort. Familienleben war für Arbeitsmigrant*innen nicht vorgesehen: Weder waren die Unterkünfte darauf ausgerichtet, noch erlaubte der prekäre rechtliche Status der Arbeiter*innen in den ersten Jahren der Beschäftigung eine Familienzusammenführung.
„In die Fremde“ zu gehen hieß mitunter, Kinder und Familie monate- oder jahrelang nicht wiederzusehen. Eine wiederkehrende Erzählung in unserer migrationsbiografischen Sammlung ist jene, dass das bei den Großeltern zurückgelassene Kind vor dem heimkehrenden Vater, der heimkehrenden Mutter wegläuft, da es sie nicht wiedererkennt. Migration bedeutete in vielen Fällen in ökonomischer Sicht zwar einen Gewinn, in emotionaler Sicht jedoch Schmerz, Trennung und Sehnsucht.
Briefkassette AT-ZEMIT-DAM Sammlung-2-30-1 © David Schreyer. Diese Briefkassette war adressiert an Osman Arıkan, der1972 der Arbeit wegen nach Fulpmes/Tirol kam. Seine Mutter Ismi und sein Bruder Ahmed, bei denen sein Sohn Selahatdin in der Zwischenzeit untergebracht war, sind darauf zu hören. Sie bedanken sich für den Geldtransfer und versichern: „Mach‘ dir keine Sorgen, uns geht es gut.“
Das Telefon war neben dem Schreiben von Briefen, Telegrammen und dem Besprechen von Kassetten, sog. „Phonopost“, ein mögliches Mittel, um diese Sehnsucht zu stillen und in Verbindung zu bleiben. Telefonieren konnte man jedoch nur bei Postämtern und später auch in Telefonzellen. In diesem Zusammenhang wurde das Bild eines „Sacks voller Münzen“ geprägt, das auch heute noch in den nachfolgenden Generationen weiterlebt.
„Und da haben wir immer ungefähr so 200 Schilling in Münzen gewechselt, und dann jedes Mal zehn Schilling eingeworfen, damit wir weitertelefonieren können mit der Verwandtschaft unten. (…) Meistens ist man nachts telefonieren gegangen, auch abends, weil untertags war die Verbindung schlecht.“ (Selahatdin Arıkan, Projekt Erinnerungskulturen, 30.7.2014, AT-ZEMIT-DAM ZEMIT-7)
Telefonieren war aufgrund mangelhafter Infrastruktur keineswegs ein Weg der direkten Kommunikation. Oft wurde über Mittelsleute miteinander gesprochen. Stundenlanges Warten gehörte ebenfalls dazu, wie Herr Mustafa aus Konya erinnert:
„Damals gab es kein Telefon. Wir gingen zur Post und telefonierten nach Hause. Mein Vater hatte kein Telefon zu Hause, deswegen rief ich bei einem Geschäft an und der holte dann meinen Vater. Wir mussten stundenlang warten, um zu telefonieren.“ (Herr Mustafa, Projekt Erinnerungskulturen, 30.7.2014, AT-ZEMIT-DAM ZEMIT-7)
Telefon - AT-ZEMIT-DAM Sammlung-2-16-2 © David Schreyer. Dieses Telefon stellt für Frau Genç aus Imst ein wichtiges Erinnerungsstück dar. Als sie als siebzehnjährige junge Frau nach Imst kam, um dort in der Textilfirma Jenny und Schindler zu arbeiten, stellte das Telefon eine wichtige Verbindung zu ihren Eltern in der Türkei dar. Zuerst tätigte sie die Telefonate vom Postamt aus, wo man mehrere Stunden auf einen Anruf warten musste. Einige Jahre später gab es im Wohnheim ein eigenes Telefon. Dieses befindet sich heute im Besitz von Frau Genç.
Auch Frau Ranisavljević, die u.a. als Zimmermädchen in Innsbruck tätig war, konnte sich nur indirekt über eine Nachbarin nach dem Wohlergehen ihrer Kinder erkundigen, die von den Großeltern im damaligen Jugoslawien betreut wurden. Wann immer möglich rief sie von der Hauptpost in ihrem Heimatort an:
„Das war schwierig. Aber wenn wir einen Brief schickten, da müssen wir mindestens zwei Wochen warten, bis ein Brief wieder zurückkam. (…) In der (…) Maximilianstraße, ja genau. (…) Da waren zehn, oder vierzehn Kabinen. Da konnte man jederzeit telefonieren. Und nachher bin ich immer, wenn ich frei hatte zur Post gegangen, um zu telefonieren.“ (Interview mit Milja und Oliver Ranisavljević, 2.5.2019, AT-ZEMIT-DAM Sammlung-2-21-8)
Verständlicherweise war die Erleichterung groß, als in den 1990er Jahren Haustelefone hier wie dort üblich wurden:
„In den 90er Jahren haben wir dann auch Telefon im Haus gehabt. Da war mein Schwiegervater noch am Leben. Er hat gesagt: „Ja, Gott sei Dank!“ Jetzt kann ich mit den Kindern reden.“ (Interview mit Milja und Oliver Ranisavljević, 2.5.2019, AT-ZEMIT-DAM Sammlung-2-21-8)
Das Telefon wurde inzwischen von neuen und vielfältigen Möglichkeiten zur Kommunikation abgelöst, die die transnationalen Mobilitäts- und Kommunikationsräume vereinfacht und „veralltäglicht“ haben. Die hier geschilderten Erinnerungen von Menschen, die zwischen den 1960er und 1980er Jahren ein Leben fern der Heimat gewagt haben, sind – in dieser Beziehung – für viele heute kaum noch vorstellbar.
WEIHNACHTEN ist für pitanga immer dann …
… wenn Menschen aufeinander zugehen, sich aufeinander einlassen und bereichert, getröstet, versöhnt, jedenfalls mit einem guten Gefühl wieder auseinander gehen!
pitanga versammelt unter seinem Dach fünf muttersprachliche Communities. Neben der finnisch- und spanisch-sprachigen, der persisch- und polnisch-sprachigen Community ist auch die russisch-sprachige Community seit 2022 bei pitanga Mitglied. Dem vorausgegangen war ein langes Zögern der russisch-sprachigen Community, angesichts des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine öffentlich aufzutreten. Gleichzeitig nahmen zum ersten Mal im aktuellen Semester Schüler*innen aus der Ukraine am Lernprojekt MEINE CHANCE teil.
Foto: Pitanga
Bei einem Interkulturellen Dinnerabend, den die russisch-sprachige Community am 15. April 2023 veranstaltet hat, trafen sich zum ersten Mal auch die ukrainischen Schüler*innen von MEINE CHANCE, die Freiwilligen der Community und Bewohner*innen des Stadtteils in entspannter Atmosphäre. Die Begegnungen an diesem Abend waren von Staunen und vielen positiven Reaktionen, besonders unter den „einheimischen“ Gästen geprägt. Das Engagement der Freiwilligen, die den Interkulturellen Dinnerabend veranstaltet haben, war damit von weit größerer Bedeutung als nur, die russische Küche zu präsentieren. Ihr Einsatz hat darüber hinaus ein Verständnis dafür geschaffen, dass die Zugehörigkeit zur russisch-sprachigen Community nicht unmittelbar bedeutet, den Krieg Russlands zu befürworten, genauso wenig wie es heißt, dass ukrainische Bürger*innen nicht mit Angehörigen der russisch-sprachigen Community an einem Tisch sitzen können – und dass erstere oft selbst aus der Ukraine und vielen anderen Ländern der ehemaligen UDSSR stammen und daher Russisch sprechen.
Dieser ganz spezielle Interkulturelle Dinnerabend hat bei uns ein Gefühl von Weihnachten bewirkt. Unser nächster Interkulturelle Dinnerabend findet im Jänner statt. Den genauen Termin und viele andere spannende Infos zu unseren Angeboten findet ihr unter www.vereinpitanga.at!
Neu in der Bibliothek für Integration und Migration
Hasnain Kazim: AUF SIE MIT GEBRÜLL!...und mit guten Argumenten. Penguin Verlag 2020. München.
Man muss sich nicht alles gefallen lassen! Bestsellerautor Hasnain Kazim macht Lust darauf, sich zu wehren und sich zu streiten. Unterhaltsam und mit Bezug zu seinen Erfahrungen vermittelt er eine Kultur des Streitgesprächs und die richtigen Argumente, um dumpfem Hass und platten Parolen Einhalt zu gebieten. Eine Anleitung für all die Diskussionen, denen wir sonst lieber aus dem Weg gehen - unterhaltsam und lehrreich gleichermaßen.
Ausleihe BIM
Diese und weitere Bücher stehen Leser*innen der BIM zur Ausleihe zur Verfügung. Die Ausleihe ist kostenlos und die Dauer beträgt 12 Wochen. Mehr Informationen erhalten Sie hier oder per E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Brauchtum in Tirol 1938 - 1955. Diplomarbeit von Nico Tilg. Innsbruck 2019
In seiner Diplomarbeit nimmt Nico Tilg gängige Bräuche Tirols, wie das Schützenwesen, Musikkapellen, das Trachtenwesen und die großen Fasnachten genauer unter die Lupe und fokussiert dabei auf die Zeit zwischen 1938 und 1955. Die Rolle, die die Volkskultur im Nationalsozialismus spielte wird dabei ebenso beleuchtet wie Brüche und Kontinuitäten, die sich in dem Zeitabschnitt ergaben. Eine hochinteressante und lohnenswerte Lektüre für alle, die bereit sind, auch hinter die Kulissen des Brauchtums zu blicken. Der Verfasser selbst gesteht eine umfassende Ernüchterung ein angesichts der Tatsache, dass "manche Inhalte nicht wirklich den Vorstellungen eines stolzen Tiroler Brauchtums gerecht werden."
Nico Tilg, Brauchtum in Tirol 1938 – 1955. Unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Imst und der Bedeutung außerschulischer Lernorte. Diplomarbeit Univ. Innsbruck, 2019.
Die Arbeit von Nico Tilg wurde von Horst Schreiber betreut. Sie bietet Lehrenden, Studierenden und SchülerInnen einen knappen, aber umfassenden Überblick zu relevanten Tiroler Themen im Zeitraum 1938 bis 1955 für den Schulunterricht. Themenfelder: Tiroler Schützen; Tiroler Komponisten und Musikkapellen; Tiroler Trachten; Fasnachten Tirols, und zudem einen fachdidaktischen Teil zu Brauchtum in der Schule, Aufbau eines Museum, Historische Kompetenzen im Museum, Museen in Imst und Umgebung.
Der Volltext der Diplomarbeit ist online verfügbar.
AKTUELLE TERMINE
23.11.2023 - 31.1.2024
Forum Museum - Festival zum Aufbruch - Programmfolder
Eintritt frei
Der Eintritt ins Ferdinandeum ist vom 23.11.2023 bis 31.1.2024 frei. Alle Ausstellungen & Veranstaltungen im Rahmen vom „Forum Museum“ können kostenlos besucht werden.
Ausstellung Flucht ist nicht flüchtig
4.3.2024 - 5.5.2024 Museum im Ballhaus (Imst)
22.5.2024 - 23.7.2024 Museum Wattens
STELLENAUSSCHREIBUNGEN
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www.imz-tirol.at
Das IMZ ist ein gemeinsames Projekt von Land Tirol/Abteilung Gesellschaft und Arbeit - Integration und ZeMiT.