Das Brauchbare am Brauchtum
Fasching und Fasnachtsumzüge haben tirolweit wieder Menschen zusammengebracht. Die ausgelassenen Feiern, die das Ende der dunklen Winterzeit markieren, sind für viele Menschen eine willkommene Gelegenheit, gemeinsam zu feiern, zu lachen und mal nicht alles ganz so ernst zu nehmen. Auch wir von ZeMiT und ARAtirol erlebten den Fasnachtsumtzug in Thaur dieses Jahr mit und waren beeindruckt von der ausgelassenen Stimmung, den Zottlern, Klötzlern und Spiegeltuxern. Ein Spektakel mit Gänsehautfaktor welches beweist, dass Traditionen für eine Gemeinschaft eine wichtige, verbindende Funktion haben. Es macht wohl auch ihren Reiz aus, dass sie ein für unsere Wahrnehmung ungewohntes Schauen, Hören und Fühlen aktivieren. Wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass die Tradition des Mullerns bis ins Mittelalter zurückreicht.
Überraschend, wenn nicht gar erschreckend ist allerdings, was dieser und anderen Traditionen über die Jahrhunderte so alles auf den Rücken gepackt wurde. Vieles davon sind gesellschaftliche Verwerfungen, die heute wie aus der Zeit gefallen erscheinen. Das betrifft allein die Tatsache, dass die Verkörperung der verschiedenen Fasnachtsfiguren weitestgehend Männern vorbehalten ist. (Vermutlich sorgen Frauen für das leibliche Wohl rund um die Festivitäten, flicken Löcher und putzen die Kostüme auf.) Ebenso davon betroffen ist die teilweise abwertende Darstellung von Menschen, die sich vermutlich im 19. und 20. Jahrhundert in Form von Antisemitismus, Rassismus und der Verherrlichung der deutschen Volkskultur im Brauchtum ausgebreitet hat. Ganz bewusst wurde die Volkskultur damals auch politisch inszeniert und zur Verbreitung rechter Ideologien instrumentalisiert. Und es dauerte nicht lang, bis eine neue Inszenierung zum Brauchtum wird und mit einer ursprünglichen Volkskultur im Gleichschritt als hochgeschätzte Tradition durch die Gassen marschiert. Über die Jahre und Generationen verlieren Akteure und Zuschauer:innen die Erinnerung und das Bewusstsein dafür, wes Geistes Kind hier seinen großen Auftritt hat. Und so sehen wir heute im Brauchtum immer wieder eine Gemengelage von tatsächlich Ursprünglichem, was mit Land, Leuten, Jahreszeiten, Arbeits- und Lebensbedingungen aus alten Zeiten in einem nachvollziehbaren und sinnvollen Zusammenhang gebracht werden kann, und ideologisch instrumentalisiertem, menschenverachtendem Beiwerk, das wie ein schwerer Klotz am Bein des Brauchtums hängt. Beiden gemein ist allzu oft leider nur eine ausgeprägte Frauenfeindlichkeit.
Auch in Thaur erleben wir beim bunten Treiben das Erschreckende dieser Gemengenlage. Die brutale Jagd der Affen durch die Gassen am Beginn des Umzuges bleibt uns schon etwas schwer im Hals stecken und wirft die Frage auf, wie und wozu es Affen in die Thaurer Tradition geschafft haben und warum sie brutal gejagt und geschlagen werden? Beim Bär stellt sich diese Frage nicht, dass das Zusammenleben mit Bären über lange Zeit ein wichtiges Thema für die Alpenbevölkerung war, liegt auf der Hand. Wenn aber nach den imposanten Spiegeltuxern und Klöpplern zum Schluss des Umzuges eine Gruppe von Schwarz bemalten Sklaven von einer Karavane an deren Haupt ein gold bemalter Mann als vermeintliche Kleopatra steht durch das Dorf getrieben wird, muss man erschrecken und man darf sich dazu im 21 Jahrhundert einige Fragen stellen:
- Wie und wozu hat es eine Praxis der Erniedrigung und Ausbeutung von Schwarzen Menschen, deren Brutalität im Sklavenhandel der Kolonialmächte gipfelte in die Volkskultur einer kleinen Tiroler Gemeinde geschafft?
- Warum lässt sich die Volkskultur diese Menschenverachtung auf den Rücken schnallen, warum wehrt sich da niemand dagegen?
- Wie können wir ein Bewusstsein und ein Verständnis dafür schaffen, dass es wichtig ist, die Gemengelage an Brauchtum und Ideologie zu entwirren?
Es geht darum, das Brauchbare am Brauchtum von dem ideologischen Müll zu befreien, der ihm über die Jahrzehnte und Jahrhunderte in den Rucksack gepackt wurde. Es geht darum, Brauchtum so zu gestalten, dass es allen Menschen unserer Gesellschaft möglich ist, bei einem Fasnachtsumzug gemeinsam zu staunen, zu feiern, zu lachen und mal nicht alles so ernst zu nehmen.