REZENSION: "Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt" von Helga Ramsey-Kurz

Halb- und Unwahrheiten beeinflussen unser Denken über Migration
Rezension von Helga Ramsey-Kurz

Hein de Haas (2024): Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. Frankfurt am Main. S. Fischer Verlag

Wer den Eindruck hat, dass die Migrationsdebatte falsch läuft und dass ständig dieselben widersprüchlichen Meinungen „für“ und „gegen“ Migration in den Raum geworfen werden, und wen dabei das ungute Gefühl überkommt, dass Politik und Medien nicht wirklich an der Entwicklung einer sinnvollen Migrationspolitik interessiert sind, wird sich durch Hein de Haas und sein im September 2023 erschienene Buch Migration bestätigt fühlen. Wie sein Untertitel 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt ankündigt, zeigt das Buch auf, mit welchen Halb- und Unwahrheiten unser Denken über Migration beeinflusst wird und wie dadurch ein wirkliches Verständnis von Zuwanderung unmöglich gemacht wird. In bestechend klarer Sprache präsentiert de Haas eine Fülle an Fakten, die er in den letzten drei Jahrzehnten zusammen mit anderen international renommierten Migrationsforscher:innen gesammelt hat. Mit diesen Fakten räumt de Haas eine gängige Annahme über Migration nach der anderen aus und fordert ein genaueres Nachdenken über Zuwanderung – vor allem über Zuwanderung in den globalen Norden. Schließlich sind es die reichsten Länder der Welt, die zwar weit weniger als der globale Süden von Migration aus ärmeren Ländern betroffen sind, sich aber am lautesten darüber beklagen.

Schon die erste Erkenntnis, mit der er aufwartet, verblüfft: Die internationale Migration ist in diesem Jahrhundert nicht angestiegen, sondern seit der Nachkriegszeit gleichgeblieben. Seit Jahrzehnten verlassen nur 3 % der Weltbevölkerung ihr Heimatland. Was sich jedoch geändert hat, ist die Richtung der Migrationsbewegungen. Während die bislang größten Auswanderungswellen aus Europa in die Neue Welt und die europäischen Kolonien in Asien, Südamerika und Afrika führten, erreichen in den letzten Jahrzehnten erstmals immer mehr Migrantinnen und Migranten aus dem globalen Süden die europäischen Außengrenzen. Die meisten von ihnen passieren diese Grenzen legal, weshalb auch von keinem Kontrollverlust an den Grenzen Europas die Rede sein kann.

Gleiches gilt für die Annahme einer seit 2015 anhaltenden „Flüchtlingskrise“. Denn das Ausmaß gegenwärtiger Fluchtbewegungen übersteigt keinesfalls jenes früherer, mehr noch: Es ist, wie de Haas belegt, geringer als in westlichen Medien behauptet wird. Seit 1950 liegt die Zahl jener, die aus ihren Heimatländern fliehen müssen, zwischen 0,1 und 0,35 % der Weltbevölkerung, und es ist kein Anstieg dieser Zahl in absehbarer Zukunft zu erwarten. Auch Klimakatastrophen werden daran nichts ändern, da sich weiterhin nur ein extrem geringer Anteil der Weltbevölkerung leisten kann, aus dem eigenen Land aus dem eigenen Land zu fliehen. Dieser Anteil wird auch in Zukunft die Hilfe von Schleppern in Anspruch nehmen. Verschärfte Einreisebestimmungen und Grenzkontrollen tragen ihr Übriges dazu bei: Anstatt den Menschenschmuggel einzudämmen, befeuern sie ihn nachweislich.

In seiner Kritik an irreführender Migrations-Propaganda ist de Haas um Objektivität bemüht. Er hinterfragt sowohl Versuche, Angst vor Zuwanderung zu schüren – wie etwa die Behauptung, dass zunehmende Immigration steigende Kriminalität und Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bedeutet – als auch Argumente, mit denen internationale Migration gerne als Form der Umverteilung des globalen Wohlstands, also als indirekte Entwicklungshilfe, gerechtfertigt wird. Es „besteht kein Zweifel“, stellt de Haas nüchtern fest, „dass Migration den Zielländern mehr Vorteile bringt als den Herkunftsländern“ (S. 275). Warum also die Aufregung? Darauf hat de Haas mehrere Antworten. Eine davon ist, dass vor allem Besserverdienende und Unternehmen von Migration profitieren und daher konsequent eine Lockerung der Einwanderungsbedingungen für ausländische Arbeitskräfte verlangen. Westliche Regierungen widersetzen sich dieser Forderung nicht. Anstatt jedoch offen zu den Maßnahmen zu stehen, mit denen sie den Zuzug von Arbeitskräfte forcieren, lenken sie von diesen ab, indem sie im öffentlichen Diskurs bedingungslose Härte gegenüber Geflüchteten demonstrieren.

Dieser Trend hat seine Wurzeln bereits in den 90er-Jahren und dem weltweiten Triumpf einer neoliberalen Wirtschaftsordnung, unter der sich Gewinnmaximierung und Rücksicht auf sozial Schwächere nicht vereinbaren lassen. Die unverhohlene, ja offen zur Schau gestellte Brutalität im Umgang mit Geflüchteten sollte einen daher nicht beruhigen, sondern Angst machen – verrät sie doch, wie eine hauptsächlich von Wirtschaftsinteressen gesteuerte Regierung prinzipiell mit Bedürftigkeit umzugehen bereit ist. De Haas schließt dennoch mit einem optimistischen Ausblick: Menschen lassen sich nicht auf Dauer mit Horrorszenarien von nicht bewältigbarer Rekordzuwanderung abspeisen, wenn die Entwicklung eines intelligenten und zeitgemäßen Migrationsmanagements ausbleibt. Es ist ihr Recht, ein solches einzufordern, und Migration ein Buch, mit dem Hein de Haas sie dazu befähigen will.

Hein de Haas (2024): Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. Frankfurt am Main. S. Fischer Verlag

Helga Ramsey-Kurz lehrt und forscht zu Fluchtnarrativen am Institut für Anglistik der Universität Innsbruck und sammelt seit 2017 im Rahmen der von ihr gegründeten und international viel beachteten Initiative ARENA (Archive of Refugee Encounter Narratives) Geschichten, die Studierende in Zusammenarbeit mit Geflüchteten verfassen. Nach Ablauf des Projektes sollen diese Erzählungen in das Dokumentationsarchiv Migration übergehen

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